Wir haben mit dem georgisch-französischen Journalisten Régis Genté über die Themen gesprochen, die bei der Europawahl ganz oben rangieren: das Erstarken des Rechtsextremismus, die Wahlmüdigkeit junger Wählerinnen und Wähler und Desinformation. Régis Genté ist ein politischer Experte für den postsowjetischen Raum und berichtet für Qualitätsmedien wie Radio France Internationale, France 24 TV und Le Figaro.

EWSA info: Glauben Sie, dass das Erstarken rechtsextremer Parteien in Europa den Ausgang der Europawahl bestimmen wird?

Ich bin zwar wahrlich kein Experte, was rechtsextreme Parteien in Europa betrifft. Aber wenn ich mir die Ergebnisse der aktuellen Umfragen bei uns (in Frankreich) anschaue, kann ich nur feststellen, dass die Rechtsextremen tatsächlich Oberwasser haben. Bei der Europawahl haben die europäischen Bürgerinnen und Bürger die Gelegenheit, den Politikern zu zeigen, was sie von der Lage im eigenen Land halten, oder ihnen diesbezüglich einen Denkzettel zu erteilen. Das bedeutet, dass es für sie an erster Stelle um die politische Lage im eigenen Land geht. Wie es um Europa steht, ist zweitrangig. Also ja, die rechtsextremen Parteien werden den Ausgang dieser Wahl wahrscheinlich mitbestimmen, denn das Verhältnis zwischen staatlicher Souveränität und europäischer Integration steht zunehmend zur Debatte.

Sind junge Menschen Ihrer Meinung nach motiviert, zur Europawahl zu gehen?

Als einfacher Bürger, der 22 Jahre seines Lebens in einem Land des postsowjetischen Raums verbracht hat und auch recht oft mit jungen Menschen spricht, würde ich sagen: Sie sind nicht gerade motiviert. Und in Georgien, wo ich lebe, sieht es nicht viel anders aus. Dort sind die jungen Menschen zwar politisiert, aber sie sind weder für eine Regierungs- noch für eine Oppositionspartei. Sie wollen das politische Leben ihres Landes mitgestalten. Aber weil sie sich von keiner Partei oder deren Spitzenpolitikern wirklich vertreten fühlen, gehen sie nicht zur Wahl. Ich finde diese Haltung sehr interessant und respektiere sie, weil so eine politische Neugestaltung angestoßen werden kann, die über die repräsentative Demokratie und Parteipolitik hinausgeht. Aber bis es soweit ist, wird die politische Landschaft weiter von Politikern und verschiedenen politischen Kräften bestimmt, und die jungen Menschen bleiben außen vor.

Wie stark kann Desinformation die Wähler vor der Europawahl beeinflussen?

Desinformation hat dann Erfolg, wenn der Adressat, also in diesem Fall Europa, schwach ist. Probleme entstehen nicht durch russische Desinformation. Desinformation macht sich bestehende Probleme zunutze. Uns allen ist bewusst, dass sich unsere Gesellschaften derzeit in einer schweren politischen und moralischen Krise befinden. Diese Krise bietet leider einen fruchtbaren Nährboden, auf dem sich Desinformation wirkungsvoll entfalten kann. Allerdings denke ich, dass uns das als Europäer und Weltbürger inzwischen nicht mehr unvorbereitet trifft, da wir Erfahrungen im Umgang mit Nachrichten in den sozialen Medien gesammelt haben. In den letzten zehn Jahren haben wir einiges dazugelernt. Wir können Nachrichten von Plattformen der sozialen Medien inzwischen etwas besser einordnen, weil wir wissen, dass sie Brutstätten von Manipulation und Desinformation sind. Wir sollten nicht zu pessimistisch sein, denn so sind wir auch schon Opfer von Desinformation geworden. Die Gesellschaft ist nicht mehr so naiv, und die Menschen wissen inzwischen, dass Länder und andere politische Akteure soziale Netzwerke zur Manipulation der öffentlichen Meinung missbrauchen können. Meines Erachtens ist nur eine Minderheit in den sozialen Medien aktiv. Die überwiegende Mehrheit der Durchschnittsbevölkerung, gebildete Menschen, melden sich dort oft gar nicht zu Wort. Und diese große Mehrheit glaubt auch nicht jeden Unsinn, der in den sozialen Medien verbreitet wird.